Jacob Böhme und das Werk als Kugel
„…das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen.“ Kafka
Das Werk Jacob Böhmes gleicht seit seiner Entstehung einem kugelförmigen Wollknäuel. Die Kugel bei Jacob Böhme kennen wir, sie besteht aus den sieben Kreisen oder Felgen eines in sich verschlungenen Rades, wie es der Titelkupfer der Aurora zeigt (vgl. nebenstehende Abbildung), nur dass wir uns diese Kugel wie ein dichtes Wollknäuel vorstellen können. Dadurch nämlich erst wird das Gestell der sieben Räder zur geschlossenen Kugel, wenn es aufgefüllt ist. Dem Wollknäuel können wir aber nicht ansehen, ob es aus nur einem einzigen langen Wollfaden besteht, oder aus mehreren, verschieden langen Fäden, die ineinander verschlungen sind. Ziehen wir an einem beliebigen Stück Faden, so folgt das gesamte Wollknäuel hinterdrein.
Das hatte die Wissenschaft herausgefordert, die wir uns wie Forscher in weißen Kitteln vorstellen können, die sich mit dem Wollknäuel beschäftigten, als liege ein unbekanntes Wesen vor ihnen auf dem Untersuchungstisch. „Halt“, rief einer, „nicht so stark ziehen, sonst verfälschen wir die Lage der Wollschlingen.“ Ein anderer hörte nicht auf die Warnung und zog sehr stark an einem anderen Faden, so dass das ganze Wollknäuel folgte. Die Kugel verformte sich zu einem eiförmig verzogenen Ellipsoid, dann zog ein anderer Forscher an dem Knäuel, stärker als zuvor, und er löste unversehens ein einzelnes Stück Faden heraus, dessen wie abgerissenes Ende er in seiner Pinzette hielt. Die Kolleg:innen zankten mit ihm, indem sie ihm vorwarfen, das Knäuel nun zerrissen zu haben, während er die These vertrat, das Wollknäuel nicht zerrissen zu haben, das ganze Knäuel bestehe vielmehr aus lauter einzelnen Fäden, die alle etwas bedeuten könnten, man könne aber nicht sehen, wie sie zusammenhängen. Denn sobald man das Knäuel völlig auseinanderlegte und zerschnitt, konnte man zwar die einzelnen Fäden verstehen, aber nur unter Preisgabe des Gesamtgefüges.
Die Forscher:innen standen im Kreis, sie rätselten, was zu tun sei. Es liege eine Unschärferelation vor, sagte eine, „wenn wir den Einzelfaden untersuchen, verlieren wir das Ganze, lassen wir das Ganze, erfahren wir nicht, ob es sich um einen zusammenhängenden Faden handele, oder um das Gefüge vieler einzelner Fäden.“ Einige schlugen bildgebende Verfahren vor, andere eine Endoskopie, bei der an einem Schlauchkopf eine Kamera angebracht wurde, und es entstanden Ansichten mit Tunnelblick, Wörterbücher und historisch kritische Fadenabmessungen. Durch Röntgen- und ähnliche Abbildungen erkannte man das Skelett des ganzen Gebildes, das die Form eines Rades aus sieben Felgen besaß. „Die Qualitätenlehre!“, riefen die Forscher:innen verzückt.
Sie begannen nach Brüchen zu suchen, fanden aber alles ganz heile. Da spekulierte einer unter ihnen, „vielleicht finden wir mehr heraus, wenn wir einmal sehen, was dieses Wollknäuel früher einmal war“. Da suchten die Forscher:innen das Wollknäuel nach Spuren ab, die über eine fremde Herkunft oder einen ehemaligen Verwendungszweck Auskunft geben könnte. Einer wollte ein Schwarzes Loch mit einem Ungrund darinnen gefunden haben, aber es war nur ein leeres Knopfloch. Ein anderer prahlte, eine echte Signatur gefunden zu haben, und als er gefragt wurde, wie heißt denn die Signatur, las er vor: „waschmaschinenfest“. Da lachten sie ihn aus.
Ein dritter rief: „ich habe eingenähte Sendbriefe gefunden, in Originalhandschriften“. „Zeig her“, sagten die andern. „Das wird an der Wollstreet hoch gehandelt,“ raunte ein Forscher. Und so ging es weiter, ein jeder fand, was er suchte: den Weg zu Christo, seine drei Prinzipien und andere Siebensachen, bis der älteste von ihnen ein Zeichen sah. „Ein Zeichen! O ein Zeichen“, riefen alle im Chor. Und der alte Forscher sagte stolz mit starker Überzeugung: „Dieses Wollknäuel war einmal ein Pullover in der Größe XL.“ Und er zeigte auf das Schildchen, das an einem Stück Faden hing, und es ist deutlich die Größe XL darauf geschrieben. Dann grübelten die Forscher: Was bedeutet diese Kleidergröße?“ – „Heureka“, rief eine junge Forschende aus, „Sie haben unrecht, Herr Professor, das ist nicht die Größe eines ehemaligen Pullovers, das dieses Wollknäuel war, sondern „XL“ ist lateinisch für „40“. Man rief erschrocken: „Die vierzig Fragen von der Seele“, und der alte Forscher brummelte nur noch, seine Assistent:innen taten‘s ihm nach und brummten auch, und die Debatte wurde sehr laut.
Bis plötzlich die Tür aufging, und ein junges Mädchen kam herein und sagte höflich: „Guten Tag, mein Name ist Ariadne. Ich habe meinen Faden hier vergessen, den brauche ich nun sehr eilig.“ Nahm ihn und rannte fort. Die Forscher:innen aber, die das Knäuel in Einzelfäden zerschnitten hatten, schwiegen mit einem schlechten Gewissen.
Thomas Isermann
Günther Bonheim: ...Blüten der Erkenntnis
oder
Einige hilfreiche Gründe, warum man es sich mit dem Lesen von Böhmes Schriften nicht so schwer machen sollte
„Christus hat den dürstigen wasser des lebens zu trincken gegeben / der schuster aber leuffet alle morgen zum Brantte wein oder wasser des todes.“ (Gregor Richter, 1624) (1)
„Diß ist einmal gewiß / daß die Böhmische Schrifften / so / wie sie jetzo / aus Holland / eine Zeit hero / wie die Kröten aus einem Morast / wieder hervor gekrochen / nicht anders / als ein Mißbrauch heiliger Schrifft / Ausleschung ihres wahren und heilsamen Verstandes / und rechtes Ertzgifft der Seelen seyn [...].“ (Erasmus Francisci, 1685).(2)
„Wer Gottes Geist nicht hat / der ist auß Babel / diesen Satz führet Böhm gar viel in seinen Schrifften: Böhm hat Gottes Geist nicht / derowegen ist Böhm auß Babel.“ (Johann Frik, 1697) (3)
„Jacob Böhme hat sich steif und fest eingebildet, daß er eine Stimme gehört, einen Engel gesehen und gesprochen, und ist doch ein Phantast gewesen […]. Ein Phantast ist ein Mensch, der im Wachen einige seiner Einbildungen für Empfindungen hält, dergleichen der vorhin angeführte Jacob Böhme gewesen.“ (Georg Friedrich Meier, 1747) (4)
„Wie manch brauchbare Schuhe hätte Jacob Böhme verfertigen und der Corrector seiner Schriften ausbessern können, unterdessen daß der eine, um die Welt zu erleuchten, einen Quartanten schrieb und der andere diesen Unsinn zum Drucke beförderte! Wie gut wäre es für sie und für alle diejenigen gewesen, die an solchen unverdaulichen Dingen Geschmack finden, wenn sie insgesamt des Lesens und Schreibens ganz unerfahren gewesen wären.“ (Sebastian Georg Friedrich Mund, 1780) (5)
Da die Bücher, die Böhme las, „insgesammt in einem dunkelen bildlichen Style geschrieben sind, so strengte er sich außerordentlich an, sie zu verstehen, und zerrüttete daher seinen ohnehin schwachen Kopf noch mehr, so wie das damit verbundene Sitzen die Hypochondrie vermehrte, und seine Gesundheit schwächte. Er besaß, wie alle Leute dieser Art, eine lebhafte Einbildungskraft, und diese nahm in dem Grade zu, in welchem sein Nerven=System geschwächt wurde. Die bildliche Schreibart der Bücher, welche er las, ohne die nöthigen Vorerkenntnisse zu haben, erhitzte und zerrüttete sie noch mehr; daher es ein halbes Wunder gewesen sein würde, wenn er nicht Erscheinungen hätte haben sollen.“ (Johann Christoph Adelung, 1786) (6)
„In den philosophischen Schulen sollte die Jugend richtig denken und urtheilen lernen; sie lernt fantasiren. Die Logik wird verschrien, und der gesunde Menschen=Verstand in die Küche relegiret. Schwärmen soll der Jüngling, um sich zu den Göttern aufzuschwingen, das absolute Thier (Gott) von Angesicht zu Angesicht anzuschauen. Jakob Böhme, St. Martin und andere Tollhänsler dieser Art werden als die Corryphäen transzendentaler Weisheit angepriesen, und die Jugend genarret, indem man sie beredet, sie würde, wenn sie in die Fußstapfen solcher Lehrer trete, einen sechsten Sinn erlangen, um das zu sehen, was nicht ist, und nicht seyn kann.“ (Franz von Spaun, 1819) (7)
„Völlige Steinwüste […] ist die Sprache der alchymistischen, astrologischen und physiologischen Ansichten, die in ihrer Specialisirung ein unerträgliches Kopfzerbrechen durch Unverdaulichkeit, spitzfindige und eingebildete Spaltung der Bilder, unlöslichen abgeschmackten Widerspruch, durch fortwährende verstandtödtende Verwechselung des Bildes und Gedankens, durch Ineinanderwerfen verschiedener, Auseinanderhalten identischer Begriffe einen blühenden Unsinn zur Welt bringen, ein Styl, der mit Geduld zu überwinden oder blätterweise zu überschlagen ist, wenn man nicht einem völligen Ekel an Böhme’s ganzer Theosophie Preis gegeben sein will.“ (Hermann Adolph Fechner, 1857) (8)
„Wahrhaftig, einzig Eckhart hätte verdient, der philosophus Teutonicus zu heißen, nicht der interessante Schuster und unerträgliche Schwätzer Jacob Böhme.“ (Fritz Mauthner, 1910/11) (9)
„Die Untersuchung des Boehmeschen Mystizismus gewährt dem Psychologen ein ähnliches Interesse zur Erleuchtung normaler religiöser Sublimationen, wie dem pathologischen Anatomen das Studium der karikaturenhaften Verzerrung kranker Organe die Struktur der normalen verdeutlichen hilft.“ (Arthur Kielholz, 1919) (10)
„Wer sich etwa mit Jakob Böhme […] befaßt, wird sich von vornherein darauf einzustellen haben, bei diesem Theosophen keine klaren Termini im Sinne wohldefinierter Begriffs- und Beziehungsbedeutungsträger anzutreffen, sondern an entscheidenden Stellen allerhand vielbesagende Bilder von dunkler, gewalttätig tiefgreifender Uneigentlichkeit sowie Begriffskontaminationen von merkwürdigem Anspielungsgehalt […]. Daß Philosophen, denen es auf begriffliche Schärfe und Klarheit von vornherein nicht ankam, auf Schritt und Tritt der Täuschung durch sprachliche Bilder, durch das nicht durchschaute Schwanken zwischen eigentlicher und metaphorischer Bedeutung der Termini unterliegen, ist nicht verwunderlich.“ (Friedrich Kainz, 1972) (11)
„Dabei hatte er [Philipp von Zesen] sich jene unheilvolle Vorstellung der Späthumanisten angeeignet, wonach Bedeutung mit dem Klang verbunden sei: die sogenannte Natursprachenlehre, die Jakob Böhme mit seiner krausen Fantastik verbreitet hatte.“ (Karl-Heinz Göttert, 2010) (12)
zu Vergnügen und Erbauung zusammengetragen von
Günther Bonheim
(1) Zitiert nach Jacob Böhme: APOLOGIA. Oder Schutzrede zu gebürlicher ablehnung / des schrecklichen pasquilles […]. In: Jacob Böhme: Die Urschriften. Zweiter Band. Hg. von Werner Buddecke. Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann, 1966, S. 273. Richters Text war aus dem Lateinischen übersetzt worden.
(2) Erasmus Francisci: Gegen=Stral der Morgenröte […]. Nürnberg: Wolfgang Moritz Endter, 1685, S. 759.
(3) Johann Frik: Gründliche Undersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer […]. Ulm: Kraer, 1697, S. 191.
(4) Georg Friedrich Meier: Gedancken von Gespenstern. Halle: Hemmerde, 1747, S. 17.
(5) Sebastian Georg Friedrich Mund: Beweiß, daß es dem Volcke nützlich sei, betrogen zu werden, sowohl durch die Erhaltung der alten als durch die Beförderung neuer Irrthümer. In: Hans Adler (Hg.): Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d’être trompé? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780. Teilband 2. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 2007, S. 819-865, hier: 841.
(6) Johann Christoph Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit […]. Zweyter Teil. Leipzig: Weygandsche Buchhandlung, 1786, S. 227f.
(7) Franz von Spaun: Vom Wechsel und vom Wechselrechte. Eine Untersuchung der Frage: ob die Privilegien der Wechsel nothwendig und nützlich seyen. München, 1819, S. XXV.
(8) Hermann Adolph Fechner: Jakob Böhme. Sein Leben und seine Schriften, mit Benutzung handschriftlicher Quellen dargestellt. Görlitz: Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften, 1857, S. 157f.
(9) Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Zweiter Band. Kategorisch – Zweck. Zürich: Diogenes, 1980, S. 127.
(10) Arthur Kielholz: Jakob Boehme. Ein pathographischer Beitrag zur Psychologie der Mystik. Leipzig und Wien: Deuticke, 1919, S. 83.
(11) Friedrich Kainz: Über die Sprachverführung des Denkens. Berlin: Duncker & Humblot, 1972, S. 136f.)
(12) Karl-Heinz Göttert: Deutsch. Biografie einer Sprache. Berlin: Ullstein, 2010, S. 181.